Bestechender Charme des prachtvollen Mittelalters
Brügge – wo der Klang der Glocken über den Dächern schwebt
Der gewaltige Klang legt sich wie ein undurchsichtiger Teppich über die ganze Stadt. Er schwebt eine Weile über den rot changierenden Dächern, um dann in jede kleine Gasse und jeden Winkel zu dringen. Das farbenreiche Spiel der mächtigen Glocken des Wahrzeichens von Brügge fasziniert die Ohren, bündelt die Gedanken und trägt sie fort in die Welt der Fantasie, der Geschichte einer fernen Zeit und lässt sie für einige Augenblicke Realität werden.
Niemand sieht ihn, aber alle hören den Glockenspieler von Brügge. Frank Deleu bringt dreimal wöchentlich die Glocken des 83 Meter hohen Belfrieds zum Klingen. Für eine Stunde zaubert dann der schlanke Mann aus den 47 Bronzeglocken, die ein Gesamtgewicht von 27 Tonnen aufbringen, wohlklingende Melodien. Das ist nicht immer ganz einfach. Neben einem mehrjährigen musikwissenschaftlichen Studium des Glockenspiels ist auch Kondition gefragt. Für die Konzerte muss der Fachmann 366 Stufen überwinden. Nach etwa zehn Minuten Kletterarbeit sitzt er, meist ganz allein, oben an seinem Spieltisch. Frank Deleu schließt dann seine Hände zu Fäusten und drückt die, sich nach vorne verjüngenden, dicken Holzstiele kraftvoll herunter. Dazu kommen die Fußpedale, die die Bassglocken aktivieren. Mit Konzertbeginn versammeln sich am Fuße des Turms die Zuhörer, lauschen der kraftvollen Musik, die aus dem Belfried, hoch über den Tuchhallen, schallt. Die Musik regt zum Nachdenken, zum Träumen an und versetzt stilvoll in die einzelnen Epochen, die sich in dem malerischen Anblick der Stadt spiegeln. Es ist Musik der Renaissance bis zur Neuzeit, die Frank Deleu für „sein Instrument“ bearbeitet hat. Der Musiker ist experimentierfreudig. Er zeigt sich im Umgang mit der alten Technik des Glockenspiels, wie das Stadtbild, modern ohne die Tradition des Ortes zu vergessen.
Während des eindrucksvollen Klangerlebnisses schweifen die Augen der Zuhörer über die fantasievoll gestalteten Fassaden einer längst vergangenen Zeit. Sie fühlen sich zu einer erlebnisreichen Erkundungstour animiert. Der Belfried steht wie die gesamte Altstadt auf der UNESCO-Liste für erhaltenswertes Weltkulturerbe. Das historische Zentrum von Brügge beschreibt exakt den Umriss der mittelalterlichen Stadt, unter Erhaltung des Raumes und der Strukturen, die für ihre Geschichte charakteristisch sind. Zusätzlich wird es durch die Architektur und Lebensräume von heute bereichert. Ein Spaziergang durch die schmucken Gassen mit ihren prachtvollen Häusern weckt Neugierde und verleitet immer wieder zum Staunen. Immer wieder entsteht die Frage: Was verbirgt sich hinter den Türen der Bürgerhäuser und Paläste? Sofort wird spürbar, dass das Mittelalter hier noch sehr lebendig ist. Es wirkt so, als wenn jeden Augenblick Edelleute, Ritter und Mägde aus den verwinkelten Straßen herauskommen könnten. Viele Kanäle, Brücken und Gassen durchziehen den Ort. Die Museen und Kirchen sind reich an wertvollen Kunstschätzen. „Brugge die Scone“, „Perle von Flandern“, „Venedig des Nordens“ lauten einige der bekanntesten Bezeichnungen für die prachtvolle Stadt. Die fast vollständig erhaltene Altstadt aus dem 12. bis 16. Jahrhundert ist ein Zeichen von Macht und Reichtum, die Brügge zu diesen ehrenvollen Auszeichnungen verholfen haben. Als eine der schönsten Städte der Welt erhielt Brügge im Jahr 2002 den Titel „Kulturhauptstadt Europa“.
Den Charme der Altstadt machen neben den alten Häusern mit ihren gotischen Treppengiebeln natürlich auch die Grachten aus. Eine Rundtour zu Fuß, mit der Kutsche oder dem Boot lohnt immer, egal zu welcher Jahreszeit.
Eine besondere Annäherung erfolgt bei den Grachten-Rundfahrten. Fast schon zu schnell gleiten die Boote an den versteckten Gärten, hübschen Brücken und wunderschöne Stillleben vorbei. Temporeich kommentieren die Kapitäne in flämisch, englisch und französisch die verschiedenen Sehenswürdigkeiten. Gern würde man an der einen oder anderen Stelle etwas länger verweilen. Schließlich heißt es, Häuser, deren Türen nicht verschlossen sind, dürfen betreten werden. Dazu gehören die Gotteshäuser. Oft ist es eine unscheinbare Pforte, die den Blick in entzückende kleine Gärten vor lieblichen Häusern ermöglicht.
Brügge ist eine Stadt mit Flair. Sie scheint unbeschädigt die Epochen überstanden zu haben. Durch den mittelalterlichen Hauch ihrer Schönheit, die verschiedenfarbigen Backsteinfassaden, die Gemälde flämischer Meister und die gotischen Gebäude wird der Eindruck vermittelt, die Zeit sei hier stehengeblieben. Aber man sollte sich nicht täuschen lassen: hinter der beschaulichen Fassade der Altstadt verbirgt sich eine Kulturmetropole mit pulsierendem Rhythmus und quirligen Caféterrassen, welche an den Kanälen entlang und auf den Plätzen Leben in das Stadtbild bringen sowie zum Flanieren einladen. Brügge ist eine geschichtsträchtige Stadt, die mit ihren zahlreichen Geschäften, Festivals und Studenten in der Gegenwart lebt. Eingesäumt von Häusern mit farbigem Giebel und dem Belfried-Turm wird der Marktplatz auch wegen seiner Cafés geschätzt. In der Mitte sind die Standbilder der Helden der Revolte von 1302 gegen die französischen Besatzer zu sehen. Es ist schwer vorstellbar, dass hier bis ins 18. Jahrhundert ein Kanal zu diesem Platz führte. Damals legten die Schiffe dort an, wo sich heute der neugotische Bau erhebt, in dem sich die Provinzialverwaltung befindet. Der Burgplatz liegt ganz in der Nähe des Marktes. Er spielte in der Stadtgeschichte eine wichtige Rolle. In einer Ecke, fast ein wenig versteckt, ist die Heilig-Blutbasilika zu finden. Der Legende nach wurde sie gebaut, um das Blut Christi, das angeblich nach einem der Kreuzzüge nach Brügge gebracht wurde, aufzubewahren. Sie besteht aus zwei übereinander gebauten Kapellen. Links daneben steht das Rathaus. Im 14. Jahrhundert errichtet, zählt das spätgotische Gebäude zu einem der ältesten Rathäuser Belgiens. Im ersten Stock ist vor allem der Gotische Saal, auch beliebt als Trauzimmer, mit einer prachtvollen Eichendecke zu bewundern. Daneben steht die alte Kanzlei. Ein bemerkenswerter Renaissancebau, in dem der Schöffensaal besichtigt werden kann.
Begleitet von dem verführerischen Duft von fast 50 Schokolaterien und dem Geklapper der Pferdehufe führt der Weg durch eine enge Straße zwischen dem Rathaus und der Alten Kanzlei zum Fischmarkt. Es öffnet sich ein kleiner Platz, der Huidenvettersplein. Früher stand hier das Zunfthaus der Gerber. Da der Bereich viele Sitzplätze im Freien bietet, gilt er heute als beliebte Adresse zum Mittagessen. Der ganze Charme Brügges mit den schmucken Backsteinhäusern die sich im Wasser spiegeln und mit der einmaligen Turmsilhouette ist gebündelt auf einem Foto am Roosenhoedkaai festzuhalten. Weiter führt die Route am Kanal entlang bis zum Groeningemuseum. Mit seiner belgischen, flämischen und holländischen Malerei vom 15. Jahrhundert bis heute ist es ein Muss für Kunstliebhaber. Zu den besonderen Ausstellungsstücken gehören Meisterwerke von Jan van Eyck, Hugo van der Goes und Hieronymus Bosch. Unter den moderneren Werken sind Arbeiten der großen Meister, wie Delvaux oder Magritte zu finden.
Ein kleiner Umweg über das Gruuthusemuseum lohnt. Untergebracht im gotischen „Palast der Herren von Gruuthuse“ beherbergt dieses Museum vor allem Kunsthandwerk: Silberarbeit, Wandteppiche und Möbel. Umliegende Gärten laden zum Pausieren einDavon, wie reich und bedeutend die Stadt im Mittelalter gewesen sein muss, zeugt eine Madonna mit Kind aus weißem Marmor des Meisters Michelangelo in der Liebfrauenkirche. Dieses Kunstwerk von unschätzbarem Wert ist das einzige des italienischen Meisters, das jenseits der Alpen dauerhaft zu bewundern ist. Gleich in der Nähe befindet sich die ebenfalls sehenswerte Sankt-Salvatorkathedrale. Ihr Turm prägt zusammen mit dem der Liebfrauenkirche und dem 83 Meter hohen Belfried die Silhouette der Stadt.
Das Memlingmuseum ist in einem der ältesten der noch bestehenden mittelalterlichen Spitäler, dem Sankt Jansspital, untergebracht. Es stellt sechs Werke des großen flämischen Malers Hans Memling aus. Zusammen mit dem Ursulaschrein bilden sie in der angrenzenden Kirche eine wahre Schatzkammer.
Die ehemaligen Krankensäle sind restauriert worden und stellen zahlreiche Gegenstände und Kunstwerke zur Geschichte der Spitäler aus. In der Apotheke aus dem 17. Jahrhundert sind Möbel und Utensilien der Epoche zu sehen.
Ein Stückchen weiter in Richtung Süden liegt die Brauerei Straffe Hendrik. Sie stammt aus dem Jahr 1546. Bei den Führungen mit Kostproben ist viel über die Braukunst zu erfahren.
Nach der Brauerei geht es zu einem der schönsten Viertel Brügges, dem Beginenhof. Mit seinen weiß gekalkten Fassaden, einem verträumten Klostergarten und dem Beginenhofmuseum lädt er zu einer romantischen Betrachtung ein.
Gegründet 1245 wird der prinzliche Beginenhof „Ten Wijngaarde“ heute von den Benediktinerinnen bewohnt. Zurück in das lebhafte Brügge führt der Weg durch das hohe klassizistische Portal. Ein Besuch der Stadt des Mittelalters mit kuriosen Museen sowie kulinarischen Adressen für jeden Geschmack und mit ihren prachtvoll verzierten Häusern, die alle ihre eigene Geschichte erzählen macht süchtig. Auch wenn die Glocken schon lange nicht mehr schwingen und der letzte Ton eines Konzerts mit Frank Deleu verklungen ist, bleibt der Nachhall vom Flair Brügges noch lange bestehen.